Vom Dorf by dtv

Vom Dorf by dtv

Autor:dtv [dtv]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2012-12-08T14:55:26+00:00


Protokoll 7

Nachts, im Lichtkreis der Lampe, phantasiere ich mich so in die erfundene Welt, daß ich mich in jeder Gestalt der Geschichten wiederfinde. Am deutlichsten in diesem Herrn im Regencape. Ich betrat das Café im Fernsehturm, ich war es, dem sie sekundenlang gehorsam war. Dabei fehlt mir das Charisma, das ein Typ wie er besitzen muß. Zwischen ihm und mir besteht eigentlich keinerlei Ähnlichkeit. Und doch paßte mir das schwarze Regencape wie angegossen. Es scheint mit der Sprache zu tun zu haben. Mit ARS Sprache, die sich wie eine Brücke zwischen mir und diesen phantasierten Gestalten spannt.

Wer hätte denn geahnt, daß ich in der Lage wäre, mir solche Dinge auszudenken? Die Frau würde aus allen Wolken fallen. Das gelingt nur, solange ich im Kraftraum ihrer Sprache bin. Dort läßt es sich dann kaum kontrollieren. Da zeigt sich, wie wenig stabil die eigene Person ist, wie schnell man alle Prinzipien und Grundsätze und Eigenschaften vergessen kann, die man für so wesentlich hielt. Das hat die Frau schon immer gewußt. Sonst wäre sie ja noch hier.

ARS hat einmal behauptet, Erinnerungen würden aus allerhöchstens fünf Prozent Tatsachen bestehen, der Rest sei Alkohol. Er benebelt, er verzerrt, er macht uns größer und berauschter, als wir sind. Er versetzt uns in einen Schwebezustand. So ist das beim Schreiben. Daran mußte ich gestern beim Anhäufeln der Rosen denken. Ich hatte es versäumt, die Rosenstöcke rechtzeitig vor dem Frost zu schützen. Jetzt ist es Mitte Dezember, und man kann nur hoffen, daß die Wurzeln nicht schon erfroren sind. Im Nebel lud ich Komposterde auf die Schubkarre und verteilte sie dann rings um die Stöcke. Der Nebel war dick und verwischte die Grenzen. Die Umrisse verschwammen. Ich hatte nur noch ein sehr undeutliches Gefühl von mir, da ich nicht mal mehr meine Hand sehen konnte, mit der ich die Erde anhäufelte. Ich schien mich ins weiße Wabern hinein auszudehnen.

Es sind die Erinnerungen, die uns scheinbar am stärksten an uns selbst binden. Mich bindet die Erinnerung an die Frau ja auch immer noch an den, der ich war. Aber die Erinnerungen sind es auch, die die am wenigsten verläßliche Auskunft geben.

Ich erinnere mich mittlerweile lebhaft an die 68er Bewegung. Dagegen ist die Verhaftung eines Kollegen am helllichten Tag vor vielleicht zwanzig Jahren so blaß, als wäre sie nur angelesenes, fremdes Wissen. Dabei habe ich damals zum ersten Mal einen Bewußtlosen gesehen. Sein Kopf war von dem Polizisten gegen eine Hauswand geschlagen worden, und es war zu sehen, wie der Blick brach und der Körper von einem Moment auf den nächsten wegsackte. Die 68er dagegen sind mir so fremd wie nur irgendwas.

Aber weder der Nebel, noch das Schreiben, noch der Bewußtlose an der Hauswand helfen mir, den Zwischenfall vor ARS Haus und die ungeheure Kränkung zu vergessen.

Ich muß es versuchen.

Die Frau fehlt mir doch.

Heute besonders.

Ihre aufgedrehte Art, mir von ihrem Tag zu erzählen. Ihr weicher Duft, der sich morgens mit dem Geruch nach Kaffee mischte. Ihr Geträller in der Küche, das abbrach, wenn sie feststellte, daß sie aus Versehen eines



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